Willkommen auf dem Weinberg der Familie Nassar
Wer aus der Enge, dem Lärm und dem Staub der Städte Bethlehem und Beit Jala auf den Weinberg der Familie Nassar kommt, atmet erst einmal auf. Er oder sie wandert auf einen Hügel zu, der eine weite Aussicht nach Westen bietet, an klaren Tagen bis ans Mittelmeer. Die Luft ist rein und klar, wohltuende Stille umfängt ihn oder sie, nur selten gestört von fernem Motorenlärm. Hörbar wird jetzt das Gesumme der Insekten, das Zwitschern von Vögeln, Hundegebell, ab und zu das I-aa eines Esels.
Ein grosser Felsbrocken liegt auf dem Strässchen. Er wurde vor Jahren schon von der israelischen Armee hier platziert, um die direkte Zufahrt zum Weinberg zu versperren und um klar zu manifestieren, wer hier das Sagen hat. Rundum auf den andern Hügeln hinter uns, linker- und rechterhand thronen israelische Siedlungen auf allen Hügeln mit klingenden hebräischen Namen: Neve Daniel, Netiv Ha-Avot, Rosh Tzurim und vor uns Betar, bei jedem Besuch um ein paar Strassenzüge weiter gewachsen. Vom Völkerrecht als illegal gebannt, erinnern diese Siedlungen in ihrer betonierten Gestalt an Festungen, für die Ewigkeit gebaut.
Dann rechts ein Stein… auf dem steht: „Wir weigern uns, Feinde zu sein.“ Und schon kommt den Besucher*innen jemand entgegen – Daoud oder Daher oder Amal… – und man wird willkommen geheissen mit einem „Merhaba“ und einer grossen Umarmung. Auf der grossen Terrasse wird Tee serviert, es werden Grüsse aus aller Welt ausgetauscht, es wird nach dem Wohlergehen von dieser und jenem gefragt und allerlei kleine Geschichten erzählt. Gastfreundschaft pur… und sofort fühlt der oder die Besucher*in sich zu Hause – auch wenn hier alles, im Vergleich zum Herkunftsort, einfach und ungewöhnlich aussieht. Nach der Rast und dem freundlichen Empfang aber stehen alle auf; die einen gehen zur Arbeit; die Besucher*in aber werden zu einer Führung über diesen Hügel des Friedens eingeladen.
Landwirtschaft
Für Schweizer Augen sieht der Hügel trocken aus, kein fliessendes Wasser weit und breit, der Erdboden von Steinen und Kieseln durchsetzt. Doch für Weinreben, Olivenbäume, Mandelbäume, Aprikosenbäume der ideale Ort. Ziel ist es, auf dem Grundstück eine bio-organische Landwirtschaft aufzubauen, die die Familie und all ihre sozio-kulturellen Aktivitäten ernähren und unterhalten kann. Und so kommt es, dass man bei jedem Besuch ein oder zwei weitere Haine von Fruchtbäumen oder Traubenstöcken bewundern kann. Nach uralter palästinischer Art werden die Steine zu Terrassen aufgeschichtet.
Wasser ist jedoch ein Dauerproblem. Den Bau von Wasserleitungen erlaubt die israelische Militärverwaltung der Familie mit den wohl am besten dokumentierten Landtitel der ganzen Region jedoch nicht. Also haben die Nassars überall im felsigen Untergrund Zisternen gegraben, um im Winter das Regenwasser aufzufangen.
Autarkie und Unabhängigkeit in der Produktion ist ein grosses Anliegen der Familie Nassar. Zwischen dem Weinberg und den Absatzmärkten in Bethlehem erstreckt sich inzwischen die Sperrmauer mit einem Checkpoint, der jederzeit und willkürlich geschlossen werden kann. Darum wird jetzt Wein gekeltert; und Dahers Weinberg verdient wieder seinen Namen. Ebenso werden Konfitüren, Trockenfrüchten und Kräutermischungen hergestellt. So werden die Produkte haltbar gemacht.
Die Ferienlager für Kinder und Jugendliche
Jeden Sommer ist die Jugend der umliegenden Städte Bethlehem, Beit Jala und Beit Sahour eingeladen, auf dem Weinberg ein paar Ferientage unbeschwerten Daseins bei Spiel, Tanz, Sport und Gespräch in freier Natur zu geniessen. Noch mehr als die Erwachsenen leiden die Kinder und Jugendlichen unter dem Eingesperrtsein auf ein paar Quadratkilometern sehr eng besiedeltem Stadtgebiet. Die Luft ist schlecht, die Hitze drückend, der Lärm gross. Oft kommen dazu – v.a. in den Flüchtlingslagern – die nächtlichen Überfälle durch die israelische Armee. Keine Frage, dass all dies auf eine Kinderseele drückt und ein jugendliches Gemüt in die Enge treibt. Oft bleibt als einzige Möglichkeit, dieser tristen Umwelt zu entkommen, der Computer, das Internet, das Game. Die Beziehung zur Natur, zum Land, zum Lebendigen geht verloren. „Unser Ziel ist es, in den Kindern Selbstvertrauen zu wecken. Ihr Selbstwertgefühl soll gestärkt werden. Sie sollen merken, dass sie Begabungen und Fähigkeiten haben, und dass sie etwas beitragen können zu einem besseren Leben in Palästina“ (Daoud Nassar).
Gastfreundschaft
Oben auf dem Hügel sind in der Sommerszeit grosse Zelte aufgestellt. Da feste Bauten von der Militärbehörde nicht bewilligt werden, müssen Zelte die zahlreichen Gäste beherbergen, die sich von Frühling bis Herbst auf dem Weinberg einfinden und hier ein paar Tage oder sogar Wochen verbringen. Sie kommen als Freiwillige, um mitzuhelfen bei der Oliven-, Mandel- oder Traubenernte oder andern Aktivitäten in der Landwirtschaft, in der Betreuung der Gäste oder bei den Kinderlagern. Sie kommen als Gruppen mit eigenem Programm. Sie kommen als BesucherInnen aus aller Welt und machen den schönen Hügel mit der Aussicht bis zum Mittelmeer buchstäblich zu einem Zelt der Völker.
Falls Sie als Gruppe oder Einzelne den Weinberg besuchen möchten, melden Sie sich am besten direkt über die Homepage tentofnations.org an.
Das Bent Al-reef-Empowerment Projekt
Aus dem Flyer des Frauenprojekts: Das Frauenprojekt Bent al-reef wurde 2005 im Dorf Nahalin begonnen, das gleich unten am Fuss des Hügels liegt. Ziel war es, den Frauen und jugendlichen Mädchen des Dorfes, Englisch- und Computerunterricht zu erteilen, damit sie ihre Kindern bei den Schulaufgaben unterstützen könnten. Das war nötig, denn Computerkurse waren teuer, neu und ungewohnt für die Frauen des Dorfes. Diese Kurse waren sehr erfolgreich und weckten das Bedürfnis und die Lust der Frauen von Nahalin auf mehr Weiterbildung auch in andern Wissens- und Lebensbereichen. All unsere Kurse und Aktivitäten zielen nun darauf hin, ihnen zu helfen, ihren Traum zu realisieren und Kraft zu schöpfen fürs Leben in einer gesunden Familie und Gesellschaft.
Das Zentrum ist viermal die Woche am Vormittag geöffnet. Jedes Jahr wird das Programm mit einer neuen Gruppe durchgeführt. Unser Ziel ist es, Frauen jeden Alters und jeder Herkunft zu erreichen: junge, erwachsene, Seniorinnen, verheiratete, alleinstehende – ihnen die Gelegenheit anbieten zu träumen, Selbstvertrauen und Selbstwert zu gewinnen.
Unser Ziel für die Zukunft ist es, Bent Al-reef in eine Erwachsenenbildungs-akademie weiter zu entwickeln, die verschiedene Kurse, Workshops und Praktika für Frauen der Region anbietet, vor allem für die jungen Frauen, die ihre Primar-, Sekundar- oder Gymnasiumsausbildung nicht abschliessen konnten und nicht die Universität besuchen können.
Weitere Informationen s. tentofnations.org